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Stuttgart 21 - Was dazu noch nicht gesagt wurde
(20. Januar 2011)

Stuttgart 21

Alle Welt ist sich einig darin, dass in den Verfahrensmarathons planerischer Großprojekte nach dem Schlichtungsverfahren mit Geißler zu Stuttgart 21 nichts mehr so bleiben wird, wie es einmal war. Vor allem wird es nicht bei der nachtwandlerischen Sicherheit bleiben, mit der Betreiber Hand in Hand mit Planungsbehörden und politischen Gremien Bürger und Bürgerinnen, die es kleiner, anders, Ressourcen sparend oder umweltschonend wollen, ausmanövriert wurden. Irgendwie unerwartet hat die bürgerschaftliche Auseinandersetzung mit Stuttgart 21 sich so entwickelt, dass ein hochrangiger "Schlichter" hat berufen werden müssen, der Ende Oktober - Anfang November 2010 für zwei Wochen lang anhören lassen und Experten vorführen können, dass es für eine tägliche Top-Nachricht in deutschen Qualitätsmedien immer gereicht hat. Waren Aufstieg und Fall einer in den 1990ern geplanten neuen ICE-Hochgeschwindigkeitstrasse zwischen Hamburg und Berlin weniger gigantisch und weniger aufregend? Sind das jahrzehntelange Tauziehen zwischen der AKW-Lobby und den Atomkraftgegnern und die bis heute andauernden, harten Kämpfe um ein Endlager von Abfällen der Atomindustrie in Gorleben national und international weniger symbolisch oder bedeutend? Der rein bahntechnologisch inspirierte Umbau des Stuttgarter Bahnhofs und der Geislinger Steige sind weder gigantischer noch so einmalig absurd, dass der besondere Erregungsfaktor, der von ihnen ausging, damit begründet werden könnte. Umso bedeutender scheint die nationale Öffentlichkeit, die Stuttgart 21 erreichte. Insofern markiert das Schlichtungsverfahren zu Stuttgart 21 tatsächlich deutlich eine Zäsur deutscher Planungspolitik.

Ich teile aber nicht die Euphorie, nun, nach Stuttgart 21, werde für alle Zukunft und in jedem Fall mehr Transparenz von Verfahren und Projektgrundlagen, gleichberechtigte oder wenigstens demokratische Teilhabe projektkritischer Bürger und Bürgerinnen an Planungsprozessen für (infrastrukturelle) Großvorhaben nicht mehr zu verhindern sein. Sie würden damit dahin wandern, wo sie sowieso hingehörten, nämlich in die Asservatenkammer jener kapitalistisch-, macht- und elitenfixierter Zivilisation, die gerade dabei ist, definitiv klimapolitisch zu scheitern.

Die Schlichtung zu Stuttgart 21 mag ein Terraingewinn der Bürgergesellschaft bezeichnen, aber in der Bredouille sind die Kräfte der hegemonialen Beharrung damit nicht gekommen. Das zeigt doch gerade auch der Schiedsspruch von Geißler: Keine tief greifende Änderung am Konzept des die Fernverkehrsstrecken durchfädelnden Tiefbahnhofs, keine tief greifende Änderung an der neuen Trassierung durch die Alb, beides zentrale Kritikpunkte der Projektgegner. Heiner Geißler mag der Meinung gewesen sein, dass die Karre bzw. die DB-AG bei Stuttgart 21schon zu tief im Dreck steckt oder vornehmer ausgedrückt, die gesellschaftlichen und politischen Kosten für einen Projektwechsel zu hoch wären, der die DB und die württembergische Landesregierung aus dem Schlamassel heraus und auf einen anderen Kurs bringen könnte. Ein wenig sieht doch der Schiedsspruch aus wie die Verfahrensagenda in den derzeitigen deutschen Banken- oder den europäischen Staatsfinanzkrisen: Rettungsschirme aufspannen, für den zukünftige Generationen noch zu zahlen haben werden und den Verursachern der Krise erlauben, ihr Business sparsamer als bisher aber auch as usual weiter zu machen. Sich aller Ressourcen zu bemächtigen, um den einmal eingeschlagenen Entwicklungspfad der Karbonisierung, Industrialisierung und der Verwandlung von Arbeitsergebnissen in immer abstraktere und abstrusere Geldformen fortsetzen zu können, das ist auch nicht gerade die Innovation, die alle gesellschaftlichen und materiellen Probleme des Wandels zur postkarbonen Produktion und Bürgergesellschaft zu stemmen.

Ich glaube nicht, dass die Stuttgarter und mit ihnen die Bürgergesellschaft der Bundesrepublik Stuttgart 21 bekämpft haben, damit das dabei herauskommt. Ihr geht es, glaube ich, um mehr und Anderes als eben mal Herrn Mapus den Vogel zu zeigen. Könnte es nicht sein, dass diese so erstaunlich unpolitische, im Sinne von ideologischen Voreingenommenheiten wenig politisch voreingenommene Bürgerbewegung gegen Stuttgart 21dies Projekt in eine Gegenwartsanalyse einordnet, die etwa Claus Leggewie und Harald Welzer wie folgt beschreiben?

"Unser Selbstbild und unser Habitus sind, nach 250 Jahren überlegener Macht, Ökonomie und Technik, noch an Verhältnisse gebunden, die es so gar nicht mehr gibt. Dieses Nachhinken unserer Wahrnehmung und unseres Selbstbildnisses hinter der Veränderungsgeschwindigkeit einer ‚globalisierten Welt' findet sich auch auf anderen Ebenen unserer Existenz - etwa in Bezug auf die Energie-, Umwelt- und Klimakrisen. Obwohl es nicht den geringsten Zweifel daran gibt, dass die fossilen Energien endlich sind und die zunehmende Konkurrenz um Ressourcen bei gleichzeitigem Rückgang der verfügbaren Mengen zuerst zu Konflikten, wahrscheinlich auch zu Kriegen führen wird und dann zu einer Welt ohne Öl, pflegen wir politische Strategien und Lebensstile, die für eine Welt mit Öl entwickelt worden sind.( ... )
Die Welt durchlebt nicht nur eine historische Wirtschaftskrise, ihr steht auch die dramatischste Erwärmung seit drei Millionen Jahren bevor. Es mag sich bombastisch oder alarmistisch anhören: Aber die große Transformation, die ansteht, gleicht in ihrer Tiefe und Breite historischen Achsenzeiten wie den Übergängen in die Agrargesellschaft und in die Industriegesellschaft. ( ... ) Am Horizont der Großen Transformation steht eine postkarbone Gesellschaft mit radikal veränderten sozialen, politischen und kulturellen Parametern. Eine Gesellschaft, die di(se) Krise verstehen und meistern will, kann sich nicht mehr auf Ingenieurkunst, Unternehmergeist und Berufspolitik verlassen (die alle gebraucht werden), sie muss - das ist die zentrale These (dieses) Buches - selbst eine politische werden: Eine Bürgergesellschaft im emphatischen Sinn, deren Mitglieder sich als verantwortliche Teile eines Gemeinwesens verstehen, das ohne ihren Beitrag nicht überleben kann." (Leggewie, Welzer 2009: Das Ende der Welt, wie wir sie kannten, 11ff.).

Words, words, words! Nur Sprüche. Selbstverständlich sind die Gegnerschaft gegen Stuttgart 21 und die nervige Protestkultur der Gegner ein Ausdruck des Vertrauensverlustes von Politik und Verwaltung bei den Kritikern. Sie haben den Eindruck, dass der notwendige Prozess des postkarbonen und demokratischen Wandels dort nur beredet, der Schaden des Verharrens in karbonen Formen beschönigt, aber die Transformation nicht kreativ und mit dem nötigen Nachdruck voran gebracht wird. Denn ins Gedächtnis der postkarbonen Bürgergesellschaft haben sich eingegraben Frau Merkels kommentarloses Abrücken von vorher vehement stilisierten globalen Klimaschutzperspektiven auf dem Rügener G8-Gipfel, die Verlängerung der AKW-Laufzeiten um weiter 12 Jahre durch die Regierung Merkel/ Westerwelle oder das Recht beugende Streichen von Klimaschutzzielen aus der Raumordnung Nordrhein-Westfalens durch einen Ministerpräsidenten Rüttgers, offensichtlich nur um einem regional ansässigen Stromproduzenten und Infrastrukturhändler ein neues Kohlekraftwerk ans Netz bringen zu lassen. Es ging und geht bei den Streitern gegen Stuttgart 21 nur vordergründig um demokratische Formalien, publizistisches Rauschen und Lärmen, um Transparenz oder betrugsfreie Kommunikation. Es geht ihnen um Inhalte! Es geht ihnen um die Durchsetzung eines anderen Naturverständnisses! Es geht ihnen um eine andere Industrie, Bahnindustrie eingeschlossen!

Und sie haben begriffen, dass die Berufspolitik doch zu beeindrucken ist, wenn man ihr richtig quer kommt. Denn die Menschen auf der Straße sind das Volk, das die Politik als Wahlvolk bei uns braucht, spätestens alle 4 Jahre. Die Industrie scheint weniger reaktionsschnell und schwerer auf Wandel einzustellen, ganz das Gegenteil von dem, was sie immer von sich behauptet. So lange der Markt und das eigene Geschäft laufen, die alten Industrieeliten nicht ausgemustert sind, sieht sie keinen Änderungsbedarf ein. Das kann dauern. Deshalb geht es gegen Mapus und die Chefplaner von Stuttgart 21 und nicht gegen den Bahnchef. Früher hieß er einmal Mehdorn.