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Das Ruhrgebiet braucht eine armutsorientierte Regionalpolitik
(3. Oktober 2014 - Dieser Text wurde veröffentlicht in AMOS 3-2014 unter dem Titel "Der Lack ist ab - Das Ruhrgebiet braucht eine armutsorientierte Regionalpolitik")

Es hilft nichts, sich oder anderen einen vorzumachen. Die Großindustrie, die diese Region seit der Mitte des 18. Jahrhunderts ihren Stempel aufgedrückt hat, hat seit den ersten Krisen nach dem Zweiten Weltkrieg versagt, ihr Zerbrechen und Zerbröseln abzuwenden. Eine historische Rückkehr von Kohle und Stahlindustrie in alter Schönheit und Hässlichkeit wird es hier nie wieder geben. Die diversen millionenschweren staatlichen Ruhrgebietsprogramme haben das nicht aufgehalten. Die Oberbürgermeister und Bürgermeister der Ruhrgebietsstädte haben mit ihrer Kirchtumpolitik als Bestatter funktioniert. Das Ergebnis haben Millionen von Einwohnern der Region auszubaden – die, die weg gegangen sind und die 5,1 Millionen, die bis heute im Ruhrgebiet geblieben sind. Davon zeugen die Statistiken. Im Jahren 2012/2013 war jedes dritte Kind armutsgefährdet. Die Hitliste der armutsgefährdeten Städte in Deutschland führte schon 2012 nicht eine Kommune in den neuen Bundesländern, sondern Dortmund mit einem Rekordnivau von 21,1 Prozent armutsgefährdeter Einwohner an. Die Prozente waren von 2005 bis 2011 um 30 Prozent gesprungen. Auch Kaufkraft bereinigt liegt die Quote für Dortmund im August dieses Jahres auf 25,5 Prozent. Ein Viertel der Bevölkerung ist also arm und ohne tragende wirtschaftliche Betätigung. Unsere ökonomisch prekarisierten Mitbewohner, und das sind ja nicht wenige, sammeln sich mittlerweile wieder in Quartieren, in denen schlechte Wohnverhältnisse mit einer 30-40 Prozent hohen Mietbelastung am Einkommen bezahlt werden müssen und wo die Betroffenen gesellschaftlich marginalisiert wurden und werden. Die A40 als Armutsäquator des Ruhrgebiets ist nur eine Symbolfigur für die regionalen Fragmentierungen der Armut. In den anderen Ruhrgebietskommunen sieht es nicht viel besser aus als in Dortmund.

Die mittlerweile unerträglichen, neoliberalen Rahmenbedingen in der Bundesrepublik haben in den letzten 10 Jahren wesentlich zu diesem Elend beigetragen. Wenn öffentliche Haushalte in der Bundesrepublik durch Steuervorteile für Kapital-Investoren abgegriffen werden, kommunale Haushalte durch steigende Kosten der Unterkunft unter erheblichen Druck geraten und durch exzessive Einsparmaßnahmen und Staatskommissare so gut wie an die Wand gefahren werden, dann ist nichts Großartiges mehr zu leisten. Die Städte des Ruhrgebiets können auf jeden Fall ihre öffentliche Infrastruktur nur noch entweder überteuern oder abwickeln, selbst wenn sie es anders wollten. Hier reichen öffentliche Haushalte und Kaufkraft von 5,1 Millionen Bewohnern nicht mehr aus, um dem gegenzusteuern. Dafür ist die herrschende politische Klasse der Bundesrepublik wesentlich verantwortlich.

AMOS/AKOPAN und ihre Gäste haben das alles und mehr am sechsten und achten September in Dortmund aus Anlass der Ausstellung "ruhr-impulse" des Regionalverbands Ruhr (RVR) diskutiert, die Ergebnisse eines Ideenwettbewerbs des RVR für Elemente einer zukünftigen Regionalentwicklung im Ruhrgebiet zeigte. Da waren viele gute Ideen dabei. Aber sie machen nur dann Sinn, wenn sich die Region von der Lebenslüge "Metropole Ruhr" verabschiedet, die angeblich allen Chancen bietet, und wenn sich die Region, ihre Oberbürgermeister, die Wirtschaft und die politische Klasse radikal realistisch auf fehlende Wirtschafts- und Kaufkraft für große Sprünge und Leuchttürme der Planung einstellen. Tun sie das nicht, dann werden die Ansiedlung von Unternehmen, der Bau neuer Wohnungen, der Ausbau von Lebens- und Wohnqualität, das Beseitigen von Verkehrsinfarkten und die Entwicklung fortgeschrittener Urbanität im Wesentlichen dem demonstrativen Konsum der schicken Leute und den disparaten Interessen subjektivistischer Milieus folgen.

Will man die Leitplanken einer regionalen Entwicklung aus den Maßstäben der Mehrheit im Ruhrgebiet gewinnen, die vom Wunsch ehemaliger und aktueller Immigranten und normaler Arbeitnehmer/Familien/Paare/Jugendlicher nach Teilhabe an auskömmlichen Standards für den Alltag, für Kultur, Ausbildung, Sport, Mobilität und Konsum geprägt wurden und werden, dann bedeutet das Armutsbekämpfung und Gemeinwirtschaft. Das könnte aktuell noch gerade funktionieren und würde die Ruhrgebietsgesellschaft widerstandsfähiger darin machen, gegen Risiken der Armut für die gesamte Region vorzugehen.

Die Anstrengungen gegen den Klimawandel oder für solide Modernisierung größer Teile der Wohnungsbestände laufen aber ins Leere, wenn es nicht gelingt die Kaufkraft durch Einkommenszuwächse für die gesellschaftliche Mehrheit zu steigern und den Zugang zu Kredit durch öffentliche Bürgschaften oder zinslose Abgabe für Ärmere und Ältere zu erleichtern. Selbst eine erkleckliche Anzahl kleiner und dispers verteilter Projekte wird nur dann neu entstehen, wenn Armutsbekämpfung als primäres Entwicklungsziel in regionalem Umfang politisch Vorrang bekommt, gesellschaftlich und politisch getragen wird und dadurch Masseneffekte ausgelöst werden. Deswegen muss auch der Regionalplan des KVR auf den Tisch und darauf geprüft werden, ob er mit seinen Festlegungen für die Fläche diesem Entwicklungsziel nachkommt. Deswegen müssen die "ruhr-impulse" nicht nur in 130 Ideen für ein "Regiebuch der Regionalentwicklung" umgeschrieben werden, sondern in verpflichtende Beschlüsse für Schlüsselprojekte von RVR und anderen öffentlichen Körperschaften, der Wirtschaft und der Zivilgesellschaft münden. Deswegen und mit der Amutsbekämpfung im Auge muss es zu einer bewohnerorientierten Repolitisierung der Regionalentwicklung und der Revitalisierung einer umverteilenden, solidarischen Ruhrstadt kommen.

Es ist aber trotz objektiver Notwendigkeit und obwohl es X Beispiele solidarischer Projekte auch im Ruhrgebiet gibt, nicht damit zu rechnen, dass es jetzt zu einer umfassenden armutsorientierten Regionalpolitik im Ruhrgebiet und dem dafür nötigen gesellschaftlichen Umdenken kommt. Das wird zu Recht von der sozialen Bewegung im Ruhrgebiet angegriffen werden. Die ungezählten bürgerschaftlichen Initiativen von Hamm bis Duisburg, die sich abgemüht haben, gegen Atomkraftwerke, Betriebsschließungen und unzumutbare Kraftwerkspläne, gegen die Vergiftung von Gärten und Wohnumgebung durch industrielle Abfallproduktion und Immissionen, gegen Privatisierung, Abriss, Verschlampung und Verteuerung sozialer Wohnungsbestände oder sinnlose neue Straßenbauprojekte vorzugehen, sie werden nicht plötzlich verstummen und aufgeben. Für den Erhalt der Arbeitersiedlungen im Ruhrgebiet haben sie gekämpft und sie tun das noch, indem sie für Bestandswohnungen Erneuerungsvorschläge und für Wohnungsgenossenschaften entwickeln. Experten, Hochschulleute und Aktivisten arbeiten daran zusammen. Für zweite Arbeitsmärkte und –gelegenheiten sind sie angetreten und für echte Sozialtickets für Hartz IV-Bezieher_innen im Regionalverkehr ebenso wie für ein Netz der Umnutzung der so genannten Bergehalden für Gärten oder für Solarenergie. Heute streitet sie schon für Quartiermangement in sozial abdriftenden Stadtteilen, für Netzwerke der Nachhilfe und den Spracherwerb im Deutschen für Kinder von Einwander_innen, für Urban-Gardening-Projekte und gegen die rassistischen Zumutungen für nicht deutschstämmige Profifußballer und die südosteuropäischen Einwanderer. Warum sollten sie damit aufhören?

Mit AMOS/AKOPLAN und ihren Gästen saß auch die Bürgerinitiative "Rettet das ehemalige Museum am Ostwall" in eben diesem mittlerweile leer gezogenen Museum am Ostwall, das der Veranstaltungsort der Diskussionen am 5. und 7. September war. Sie brachte Besucher dort hin und sammelte an die 80 Unterschriften für ihr Anliegen "Altes Museum am Ostwall – das bleibt!" Die Stadt Dortmund hatte es für vier Tage kostenfrei überlassen. So was nennt man heute "Zwischennutzung". Niemand war fies davor. Das Vorläufige solcher Arrangements wird wert geschätzt, denn bessere Rahmenbedingungen für eine armutsorientierte Regionalentwicklung können nicht herbei gebetet werden. Jede noch so unscheinbare Chance ist zu nutzen, um Revolten zu realisieren, wohl wissend, dass Ideen sonst nur "words, words, words" bleiben. Mehr Menschen müssen sie kennen lernen und ergreifen, sie zu gesellschaftlich akzeptierter Regulation machen wollen und mit Hilfe hartnäckiger Koalitionen der Verständigen, Willigen, Vermögenden und Mächtigen oder mächtig Gewordenen zu wirklichen Projekten werden lassen.