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Sind die Flüchtlinge schuld an der Wohnungsmarktkrise in Deutschland?
Repolitisierung der Wohnungsfrage wegen schwieriger Unterbringung der 2015er Flüchtlinge?
(18. Januar 2016)

Als ich im Dezember 2015 begann, neu über die Wohnungsfrage nachzudenken, ging auch eine email der Wohnungsmarktbeobachtung NRW bei mir ein. Sie teilte mit, dass die NRW-Bank aus ihren eigenen Daten und aus den Daten der IT NRW hochgerechnet habe, welchen zusätzlichen Wohnungsbedarf die aktuelle Flüchtlingswelle aus Vorderasien nach Europa im kommenden Jahr in Nordrhein-Westfalen produzieren werde. Diese Hochrechnung wolle man aus aktuellem Anlass doch schon einmal mitteilen: http://www.nrwbank.de/wmp. Mehr Informationen dazu fände man auf http://www.nrwbank.de/wohnungsmarktbeobachtung. Es gehört nicht viel Kennerschaft dazu, sich vorzustellen, welche Botschaft die Daten der NRW-Bank transportieren, die im Regierungssystem Nordrhein-Westfalens u.a. auch für die Förderung von Wohnungsbau zuständig ist. Der Bedarf nach Wohnungen für Flüchtlinge wird 2016 so sprunghaft und dramatisch steigen wie schon im vergangenen Jahr die Zahl der in Deutschland angekommenen Flüchtlinge im Jahr 2015 angestiegen war. Die Modellrechnung der Wohnungsmarktbeobachtung NRW geht davon aus, dass im Jahr 2015 rund 200 000 Flüchtlinge nach Nordrhein-Westfalen kamen. Flüchtlinge aus Syrien, Irak, Afghanistan, Parkistan, Eritrea und Nigeria hatten, vereinfacht angenommen, zu 100 Prozent Anerkennungschancen und würden im Lande bleiben, Flüchtlinge aus Nicht-EU-Balkanstaaten würden zu 100 Prozent abgelehnt, die aus übrigen Nationen würden zu 40 Prozent anerkannt.1)

Auch ein restriktiveres Einwanderungsgesetz als bisher und ein bürokratisch und mit polizeilichen Mitteln durchgesetzter Verteilungsschlüssel auf die einzelnen Bundesländer, der sicher nicht mit den Ideen der Flüchtlinge über ihre gewünschten Aufenthaltsorte übereinstimmen wird, werden nicht dafür sorgen, dass aus dem Nichts und auf dem im Großen und Ganzen wenig angespannten Wohnungsmarkt NRWs genug Wohnungen für Flüchtlinge zu finden sein werden, die 2016 als Asyl suchend gemeldet sind und deswegen nicht mehr in Erstaufnahme-Lagern und in ihrer Nähe herumhängen müssen. Geeigneter Wohnraum wäre in erster Linie bezahlbarer und stadtkulturell akzeptabler Wohnraum. Solchen Wohnraum für alle, den wird es voraussichtlich nicht geben. Er muss sich entwickeln und erkämpft werden.

Die Flüchtlingslager sind unübersehbar politischer Anlass einer Art Neusortierung deutscher Wohnungspolitik. Die NRW-Bank wird mit Anfragen und Anträgen aus den Kommunen und Landkreisen NRWs überschüttet, bei der Unterbringen von Flüchtlingen mit Mitteln des Landes aus der Wohnungsbauförderung behilflich zu sein. In den übrigen Bundesländern dürfte der Schrei nach Hilfe nicht viel leiser sein. Und damit liegt die Wohnungsfrage in Deutschland wieder durchaus handfest auf dem Tisch.2) Es sollte die Chance genutzt werden, die Repolitisierung ausreichender und zeitgemäßer, bezahlbarer Wohnungsversorgung in Deutschland im Konvoi mit dem Flüchtlingszustrom zu versuchen, der auch an anderen Aspekten wie Asylrecht, öffentlicher Sicherheit und Versorgung der Flüchtlinge mit genug Kleidung und Nahrung politisch ungewöhnlich stark umstritten ist. Es wäre unklug, sich nicht im Strom der öffentlichen Aufmerksamkeit für die "Flüchtlingsfrage" zu bewegen, auch wenn es brandgefährlich ist. Die Süddeutsche Zeitung titelt am 14. Januar 2016 auf der Frontseite: "12,1 Millionen übrig - Historischer Haushaltsüberschuss soll in die Flüchtlingspolitik fließen". Weiter unten heißt es: "Bundesfinanzminister Schäuble (CDU) teilte am Mittwoch mit, er werde 12,1 Milliarden Euro in eine Rücklage für 2016 verbuchen. (...) Mit dem Geld sollen Flüchtlinge versorgt, integriert und Maßnahmen finanziert werden, mit denen Fluchtursachen beseitigt und Grenzen gesichert werden können".3) Kein ganz gutes Zeichen für eine Wohnungspolitik, die Flüchtlingen hilft. Auch die Frankfurter Allgemeine Zeitung beschwert sich darüber, dass sich im Zuge des "Flüchtlingsanstroms die Wohnungsnot verschärft hat," weswegen der deutsche Finanzminister Schäuble (CDU) sich zu einer Sonderabschreibung von 10 Prozent auf die Erstellung von Neubauwohnungen in den Jahren 2016 bis 2020, wohlgemerkt nur in Städten mit angespannter Wohnungslage wie Hamburg, München, Berlin, Frankfurt, Stuttgart, Hannover, der Rheinschiene in NRW und im Raum Freiburg, habe überreden lassen. Sie stehe im Widerspruch zu einer Mietrechtsnovelle seines Kollegen Heiko Maas (SPD), der Mieter vor überhöhten Mietsprüngen in der Folgen von Modernisierungsumlagen schützen wolle. "Mit der Reform des Mietrechts tritt die Regierung auf die Bremse (Horrorkatalog), mit der Sonderabschreibung gibt sie Gas. Am besten wäre es, wenn sie einfach auf beides verzichtet."4)

Ist das in den nächsten 10 Jahren zwingend das Panorama der deutschen Wohnungswirtschaft und -politik? Ist der ständige, massenhaft Skandal behaftete Strom von zehntausenden Wirtschafts- und Kriegsflüchtlingen aus dem Mittelmehrraum jetzt das Wohnungsthema Nr. 1? Mir erscheint die Kombination von Flüchtlingspolitik und wohnungspolitischen Diskursen kommunikationspolitisch als äußerst problematisch. Denn tatsächlich sind Mangel und Mängel im Wohnsegment für einkommenslose oder einkommensschwache Haushalte in Deutschland seit Jahrzehnten oder Jahrhunderten eine unausrottbare Epidemie in der Wohnungswirtschaft, mal heftiger, mal weniger heftig. Eine Kombination der Debatte über sie mit der aktuellen Flüchtlingskrise verschließt sich fast immer gegenüber den Ursachen dieses Mangels.

Die politische Gefahr ist: Forderungen und Projekte, untermauert durch den großen Bedarf der Flüchtlinge, können nichts dagegen tun, fremdenfeindlich umkonstruiert zu werden, und zwar so, dass Programme oder einzelne Maßnahmen für Flüchtlingswohnungen als Sonderrecht, und zwar als privilegierendes Sonderrecht für Flüchtlinge, erscheinen, das bedürftige Deutsche diskriminiert, was selbstverständlich Unsinn ist. Ob ungewollt oder in finsterer Absicht: Der Kombinationsdiskurs gefährdet die aktuell große Zustimmung zu einer liberalen Flüchtlingspolitik bei den Deutschen. Gelänge der Angriff, so hätte der Hinweis auf eine wohnungspolitische Krise als Kommunikationskonzept zwar funktioniert, aber als sozialpolitisches Konzept für eine Krisenbewältigung auf den Wohnungsmärkten hätte es versagt. Die Prekarisierung, Diskriminierung oder Exklusion von einkommensschwachen oder wohnungslosen Migranten auf den deutschen Wohnungsmärkten hätten sich eher verschärft. Wohnungspolitisch wäre nichts gewonnen.

Oder sieht die Zukunft des Wohnens in Deutschland demnächst ganz anders aus?

Ein Vorschlag des Architekten Thomas Jocher, veröffentlicht in der Süddeutschen Zeitung, könnte aus der Sackgasse führen.5) Jocher schlug vor, überall, wo es Sinn macht Stadtlöcher zu schließen und wo Wohnfolgeeinrichtungen in den Städten oder einer Region wieder aktiviert werden sollten, wo Kindergärten und Schulen in der Vergangenheit aufgrund des Kindermangels geschlossen wurden, da sollte mit temporären Gebäuden vom Typus "olympische Dörfer" Wohnraum für Flüchtlinge geschaffen und womöglich Leerstand umgenutzt und beseitigt werden. Da die mittlere Haushaltsgröße bei Flüchtlingshaushalten nahezu 100 Prozent über dem bei Deutschen üblichen Zwei-Personen-Haushalt liegt, sollte ein bisschen Überbelegung bewusst hingenommen und gestaltet werden, wie sie auch in den Olympischen Dörfern gängige Praxis gewesen ist. "1972 waren in München mehr als 10 000 Sportler und Sportlerinnen im Olympischen Dorf untergebracht. Jetzt wohnen hier nur noch gut die Hälfte Bewohner in ganz normalen Wohnungen", so Jocher. Das könnte auch ein Anlass sein, die Verdichtung städtischer und ländlicher Räume neu zu diskutieren- und den deutschlandweit brach liegenden sozialen Wohnungsbau. Tun wir ihm doch den Gefallen!

Thomas Jocher erinnert daran, dass die Olympischen Dörfer "... nicht zur dauerhaften Nutzung sondern zeitlich genau befristet und vor allem rückbaubar konzipiert" sind. Das beste Beispiel, das er kenne, sei "das olympische Dorf in der kleinen Stadt Lillehammer in Norwegen. Ausgeführt für die Olympischen Spiele 1994. Nach den Spielen wurden die Gebäude großflächig ab- und wieder aufgebaut - an verschiedenen Orten in Norwegen, beispielsweise als Studentenwohnungen." Demontage und Transportierbarkeit von Bauelementen, um Gebäude an anderer Stelle wieder aufbauen zu können, sollte deswegen eine Regelanforderung an den neuen Wohnungsbau für Flüchtlinge werden.6) Temporärer Wohnungsbau ist nicht identisch mit Wohnungsschrott, er kann auch Qualität haben - wie unsere eigenen Wohnungen, die nicht auf Unveränderbarkeit und Ewigkeit hin eingerichtet sind, oft aus Umbau entstanden, für Veränderung und Anpassung an neue Lebensumstände offen sind, auf neue bautechnische Erkenntnisse, ästhetische Bedürfnisse, neue Familienkonstellationen und Lebensalter reagieren und reagieren können sollen. Temporär konzeptionierter Wohnungsbau ist zeitgemäßer Wohnungsbau.

Oder kriegen wir es jetzt mit einer Urbanisierung nach dem Stadtmodell der informellen Siedlungen auf unserem Planeten zu tun, das die Flüchtlinge notgedrungen und in der Folge des permanenten Versagens von Integrationspolitik und Kommunalpolitik in Deutschland hierher importieren? Wer es schaffte, sich auf Fluchtwegen nach Deutschland durchzuschlagen, gehörte in der Regel zu den Fähigen und bringt größte Leistungs- und Risikobereitschaft mit, sich auch außerhalb oder am Rande der gewohnter kultureller Pfade und der gewöhnlichen Regulation hierzulande am Leben zu halten, zu arbeiten, sich auszubilden und zu behausen. Bis zu welchem Grad der Abweichen wollen und sollten wir solche Pfade zulassen. Oder benötigen unsere deutschen Stadtgesellschaften sie geradezu, um die Zukunft der zeitgenössischen Erwerbs- und Migrationsgesellschaften samt ihren städtischen Zusammenhang experimentell voraus zu denken und in Projekten auszuprobieren? Sollten wir die Zukunft des Städtischen nicht geradezu von ihrem unteren gesellschaftlichen Rand her denken, sein Humankapital entwickeln, ihm demokratische Teilhabe bieten anstelle von Exklusion? Der Verlust von intellektuellem Kapital, ein entscheidender Faktor für die Lösung der vielschichtigen Probleme unserer Zeit, wäre ein weitaus stärker begrenzender Faktor weiterer Entwicklung von Stadt, Vielfalt und Urbanität als der Verlust an Staatsgeldern. Sie lassen sich durch Stiftungen, moderne Genossenschaften, zinslose Familienkredite, Muskelhypotheken, experimentelle Lebensgemeinschaften und andere Formen kommunitären Kapitals ergänzen und ersetzen, wie mittlerweile hunderte von Projekten in Deutschland und Europa zeigen.7)

Anmerkungen

1) NRW.Bank (2015): Wohnungsmarktbericht NRW 2015, Düsseldorf, p. 21
2) Weber, Stefan (2015): Wegschauen hilft nicht, in: Süddeutsche Zeitung Nr. 227, 2./3./4. Oktober 2015 Mietmarkt
3) Süddeutsche Zeitung Nr. 10 vom 14. Januar 2016, p. 1
4) Schäfer, Manfred (2015): Sonderabschreibung für Wohnungen, in FAZ Nr. 276, p. 19
5) Jocher, Thomas (2016): Baut mehr Olympiadörfer, in Süddeutsche Zeitung Nr. 7, vom 11.1.2016, p. 2
6) Dies fordern auch Christoph Bijok und Winfried Schneider in ihren Beiträgen zur Debatte um Wohnungsbau für Flüchtlinge. Bijok argumentierte stadtstrukturell: "Das richtige Verhältnis von Abbrechen, Aufbauen und Erhalten ist ein entscheidender Schritt bei der Planung einer nachhaltigen Stadt" in: Grün und sozial, Aktuelle Aufgaben für einen nachhaltigen Städtebau, in Wohnen + Gesundheit Nr. 157, 2015, p. 25;
Schneiders plädiert für Demontage und Wiederaufbaumöglichkeit in: Alternative Wohnkonzepte nicht nur für Flüchtlinge, in Wohnen + Gesundheit 157, 2015, p. 26.
Dort auch Abbildungen für überzeugende Beispiele aus Deutschland, Italien und Japan.
7) Stellvertretend für viele andere Veröffentlichungen:
Finkenberger, Isabel; Schleich, Christoph (2014): Mehr als Wohnen. Vom Zusammenleben in integrierten Nachbarschaften, in: Aus Politik und Zeitgeschichte (APuZ) 20-21, Bonn, p.46-51;
Haselsteiner, Edeltraut (2015): Wohnen und (in) Gemeinschaft, in: Niederösterreich Gestalten. Das Magazin für Bauen, Architektur und Gestaltung 150, St. Pölten, p. 54-55